Den gestrigen Abend verbrachte ich im hoteleigenen Restaurant in Astorga.
Da ich immer ausgiebig frühstücke, den Tag über während dem Strampeln nur Energieriegel oder Bananen und Flüssigkeit zu mir nehme, habe ich jeweils am Abend einen richtigen Kohldampf beieinander. Vor allem auch, weil das so lange geht, bis es etwas zu Essen gibt. Die richtigen Restaurants machen erst ab 20 Uhr oder 20.30 Uhr auf, vorher gibt es in den Bars nur Tapas.
Blöderweise bestellte ich gestern noch eine Vorspeise, so dass ich zusammen mit dem Nachtessen viel zu viel im Magen hatte. Heute Morgen war mir halb schlecht, die Beine wollten nicht richtig - überhaupt war die Luft draussen! Am liebsten wäre ich wieder ins Bett gekrochen! Oder noch besser, wenn es einen Knall gegeben hätte und ich wäre in Santiago wieder erwacht. Ich ging ans Frühstücksbuffet, mochte aber nicht mal die Hälfte dessen, was ich sonst so reinhaue, irgendwie war der Wurm drin. Zurück ins Zimmer, einpacken, bereit machen - ich sass auf dem Bett und wusste nicht mehr, was los war. Irgendwie wollte der ganze Körper nicht, alles sträubte sich dagegen, loszulegen. Ich muss aber! Durch das zu lange ausruhen werde ich nur fauler, ich kenne das, das will ich nicht! Also musste der Kopf alle einzeln aufrufen, die bei der heutigen Tour mitmachen sollten. Er gewann natürlich, der Kopf!
Lustlos strampelte ich vor mich hin, wenn ich meinte, den richtigen Tritt gefunden zu haben und auf den Tacho schaute, stand ich fast still. Dazu kam, dass es mir immer übler wurde, ich denke, dass ich im Magen noch zu viele unverdaute Speisen des gestrigen Abends intus hatte. Kopf an Magen: Ruhig verhalten, runterfahren, das kommt schon gut! Nicht zu viel Leistung abrufen, schön gemächlich den monotonen Tritt suchen. Nach 2 Stunden war er gefunden! Gottlob, denn jetzt kam der berühmte Berg!
Das geht hinauf und hinauf, das hört nicht mehr auf! Der Jakobsweg verlief heute wieder den ganzen Tag entweder auf oder gleich neben der Strasse und konnte teilweise auch mit Montainbikes nicht befahren werden, die mussten auch auf die Strasse ausweichen. Auffallend viele Pilger hatte es heute! Je näher man Santiago de Compostela kommt, desto mehr hat es auf den Wegen! Junge, von 18 an, alte Menschen, dicke, dünne, Männer alleine, Frauen alleine, Männergruppen, Frauengruppen - wirklich alles ist hier auf den Beinen. Und wie! Manchmal sieht man Leute mit krummen Beinen, hinkend, das tut nur schon beim zuschauen weh, Leute mit 30 - 40 Kilo zu viel um sich herum - aber alle gehen den Jakobsweg! OK wie viele bis hierher gegangen sind, wie viele den Zug genommen haben oder dieses Jahr nur einen Abschnitt gehen - ich weiss es nicht. Über den heutigen Berg habe ich einige Male Taxis fahren gesehen! Wenn mir heute einer sagt, er habe den Jakobsweg gemacht, will ich genau wissen, von wo bis wo, ich habe inzwischen vieles gesehen und gehört!
Der Höhepunkt des heutigen Aufstieges ist auf der Passhöhe das Cruz de Ferro. Es gibt keinen Pilger, der das nicht kennt. Zur perfekten Vorbereitung gehört auch, dass man sich zu Hause im Garten einen Stein aussucht und den mitnimmt. Beim Cruz de Ferro nimmt man den Stein hervor, ich musste nicht suchen, ich wusste genau, wo ich ihn platziert hatte.
- Man hält diesen Stein in den Händen und übergibt ihm alle Sorgen und Lasten des bisherigen Lebens.
- Dann legt man den Stein samt den Lasten und Sorgen vor dem Cruz nieder.
- Neben der Kapelle noch ein wenig ausruhen und wirklich in Gedanken alle Lasten hier zurücklassen.
- Das ist ein alter Brauch, jeder muss selber wissen, ob er das will.
- Ich habs gewollt und gemacht, daher bin ich ab heute alle alten Belastungen los!
Eine sehr spezielle Berglandschaft durchfuhr ich heute, viele blühende Sträucher, man sieht es auf den Bildern. Dann eine lange, sehr lange Abfahrt, teilweise recht holprig und gefährlich, das Tempo also im Griff behalten, war die Devise. Heute war kein Geschwindigkeitsrekord möglich! Ab Mittag und sogar vor der Passhöhe, hatte sich meine Übelkeit in nichts aufgelöst, einfach weg. Die Freude, diesen Pass bezwungen zu haben, teilte ich mit dem jungen Spanier aus Barcelona, wir waren heute ein Zufallsteam geworden. Es zeigt mir immer wieder, dass vieles im Leben mit mentaler Kraft beeinflusst werden kann. Wenn Du über Kopf und Willen den Rest des Körpers im Griff hast, werden die Grenzen weit nach aussen geschoben! Nach der Abfahrt noch ein paar Kilometer Berg- und Talbahn, und schon war ich in Ponferrada.
Diese Etappe habe ich verkürzt, vorgesehen wäre León - Ponferrada an einem Stück gewesen, war mir aber zu stressig, so viel an einem Stück dazu noch der Pass! Vermutlich werde ich noch vernünftig mit dem Alter. Und für das Cruz der Ferro wollte ich einfach genügend Zeit haben, darauf hatte ich mich gut mental vorbereitet. Nach der Ankunft bezog ich gleich das Zimmer im Hotel Ponferrada Plaza und machte mich nach dem Duschen auf den Weg zum Stadtbummel, um Eindrücke und Bilder sammeln zu können.
Auch heute sind wieder Zuschriften von lieben Freunden angekommen, vielen herzlichen Dank, das tut immer gut und stellt mich auf!
Da genug Zeit vorhanden war, habe ich heute eine Zwischenmahlzeit eingenommen, so dass ich jetzt nicht mit Heisshunger auf alles Essbare stürzen muss. Eine Kleinigkeit werde ich zu mir nehmen und dann den Tag gemütlich ausklingen lassen.
Danke für die gedankliche Begleitung, einen schönen Abend, eine gute Nacht und bis bald!
Mit lieben Grüssen aus Ponferrada, Hans Ueli